Die Langstrecken 2010-2013
Eigentlich ziehe ich das Mountainbiken in der Natur dem Kilometerschrubben im Straßenverkehr vor. Aber irgendwie hat mich die Strecke Stuttgart – Dierdorf schon länger gejuckt, quasi aus dem Mittelalter (meinem) zurück in die Jugend. 2010 habe ich die 300km am Stück dann mit erstaunlich wenig Problemen geschafft, und seitdem lege ich mir die Latte jedes Jahr ein bisschen höher:
- 2010: Stuttgart – Dierdorf. 302km, 2400HM, zum Anfixen.
- 2011: Stuttgart – Bleifeld. Frank besuchen. 392km, knapp an den 400km vorbei.
- 2012: Stuttgart – Dierdorf, 300km, 2800HM über die Taunus-Route.
- 2012: Stuttgart – Schwabach – Stuttgart. 412km, das erste Mal die Nacht durch.
Aber die geplanten 10km pro Lebensjahr habe ich letztes Jahr (aufgrund etwas nachlässiger Kalenderpflege) nicht geschafft, damit ist das Ziel für 2013 klar: 450km.
Anfang August der erste Versuch. Auch wenn die ausgeknobelte Strecke zu Joachim nach Luzern schon 250km einfach beträgt und der Wetterbericht 36-38°C prognostiziert, will ich es probieren. Chancen? Nicht drüber nachdenken. Unter den Randbedingungen bin ich dann auch froh, nach 275km mit schweren Beinen und weichgekochtem Hirn bei Joachim Asyl für die Nacht zu bekommen und den Rückweg am nächsten Tag mit der Bahn zurücklegen zu können.
2 Wochen später der zweite Versuch, Ziel diesmal Tutzing, zum Abendessen bei Thea und Uwe. Temperaturen (28°C) und Kilometer (225km einfach) passen. Start kurz nach fünf, Sonnenaufgang am Albaufstieg im Lenninger Tal, tolle Nebenstraßen auf der Alb und Frühstück in Ulm. Zwiebeltürme in Bayern, kleinere Straßen, viele Radwege, eigentlich nett zu fahren. Aber die Zweifel ob ich es schaffen kann werden stärker, noch nicht mal ein Drittel und eigentlich bin ich fertig. Deshalb 75km nach Ulm schon wieder eine Pause. Aber je weiter ich vorankomme, desto selbständiger arbeiten die Beine. Pause in Landsberg, danach steiler Anstieg aus dem Lechtal und auf und ab bis zum Ammersee. Mit unerwartet steilem Schlussanstieg bin ich um 17:30 in Tutzing, 230km.
Ausgiebiges und gemütliches Abendessen mit Thea und Uwe, erst nach zweieinhalb Stunden drängt es mich wieder aufs Rad. In Landsberg kurz vor 23:00 noch viel los, ich trinke an einem Pizzaservice eine Cola und hole Pizzabrot für unterwegs. Viel Hunger habe ich noch nicht nach dem tollen Abendessen. Viele Landwirte fahren noch Getreide ein, vom Staub tränen und jucken mir die Augen. Gegen 3:30 Pause in Ulm an einer Tanke, Cola und Sandwich für die nächsten Kilometer. Aus Ulm heraus Richtung Blaustein überfällt mich die Müdigkeit, eine gerade Linie kann ich kaum noch fahren, die Konzentration sinkt gefährlich ab, mir fallen beim Fahren die Augen zu. Kurze Pause, lehne mich mit dem Rücken an ein Geländer, und schließe für 10 Minuten die Augen. Als der Kopf nach vorne fällt, geht es wieder aufs Rad. Es ist 4:30, jetzt Musik, die MP3s lasse ich zufällig abspielen. „Bicycle Race“ ist das erste Stück, bei „I want to ride my bicycle“ frage ich mich schon, ob ich das wirklich will. Nummer zwei dann „Our Darkness“ von Anne Clark, passt zur Situation. Stockdunkel ist es, auch die letzten Nachtschwärmer liegen jetzt im Bett. Als drittes: „Hey you“ von Pink Floyd. „Hey you! Out there in the cold, getting lonely, getting old” beschreibt ganz gut wie ich mich fühle. Allein in der kalten Nacht, und so ganz taufrisch bin ich auch nicht mehr.
Der erste Anstieg ist nicht so schlimm wie gedacht, auf der Alb ist es wellig. Nach dem Kurz-Schlaf bin ich wieder einigermaßen wach. Die Kilometer addieren sich, so langsam rückt das Ziel in „greifbare“ Nähe. Das „ich kann es schaffen“ weicht einem trotzigen „ich werde es schaffen“. Sonnenaufgang auf der Alb, vor dem Albabstieg rechne ich kurz hoch: 465km werden es bis Stuttgart, noch gut drei Stunden, das ist drin! Vor Kirchheim Frühstück an einer Bäckerei, nach der Pause fühle ich mich einigermaßen erholt. Doch dann schlagen die Gedanken merkwürdige Kapriolen und denken schon ans nächste Jahr. 500km in 2014? Jetzt bin ich so nah dran! Das nicht auch noch zu versuchen würde das ganze Jahr an mir nagen. Also: Umweg durchs Neckartal und in Cannstatt Blick auf den Tacho. Es fehlen immer noch 25km bis 500, also weiter bis nach Remseck und dann auf der anderen Neckarseite zurück. In Heslach wird klar, die 500km schaffe ich genau. Blick auf Tacho: 3850HM, 23:40 reine Fahrzeit. Sollen wirklich die paar HM und Minuten fehlen? Also ein weiterer Umweg: Hoch bis Vaihingen, zum Vaihinger Bahnhof und dann durch den Park zurück. 11:30 biege ich in die Hofeinfahrt ein, 506km, 4005HM, 30,5 Stunden unterwegs, davon 24h reine Fahrtzeit. GESCHAFFT!
Duschen, etwas Essen und ins Bett. Nach 20 Minuten Anruf von Alina aus den USA, schön von ihr zu hören! Dann schlafe ich doch noch ein, 17:00 bin ich wieder auf den Beinen, aber noch nicht so richtig bei mir. Treppensteigen fällt unendlich schwer, am meisten machen aber die Augen zu schaffen, die durch den Getreidestaub immer noch jucken. Erst Sonntag mittag stellt sich ein Allgemein-Zustand ein, der mit „fertig, aber einsatzfähig“ beschreibbar ist.
Auf der Langstrecke habe ich meine Grenzen so weit verschoben, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Doch mit den überschrittenen 500km gibt dieser kleine Teufel, der nach immer längeren Strecken schreit, endlich Ruhe. Für 2014 suche ich mir neue Ziele abseits der Langstrecke. Aber das hatte ich 2012 auch schon mal vor.
Eine Frage bleibt noch zu klären. Die nach dem Wieso.
Eine Antwort habe ich auch nicht. Sich selbst was beweisen, sich zeigen, zu was man fähig ist? Zu sehen, wieweit der Kopf sich gegen den Körper durchsetzt?
Bei der Planung überwiegt die Euphorie, der Gedanke an den Erfolgt schiebt die Zweifel in den Hintergrund. Die kommen dann die Tage vor dem Start. Habe ich mir zu viel vorgenommen? Viermal so viel fahren, wie meine längste Tour dieses Jahr (nach der ich den ganzen nächsten Tag noch schlapp war)? Das kann ja nicht gehen!
Doch sobald ich auf dem Rad sitze, überwiegt der Stolz auf den eigenen Mut, es überhaupt zu versuchen. Am Anfang bremse ich mich bewusst. Zunehmend machen sich Muskeln und Sitzfleisch bemerkbar, Körper und Wille fangen an zu diskutieren, doch der Wille treibt. Nach 110km, einem Viertel der Strecke, schaltet sich der Verstand ein und rechnet hoch: Das kann nicht klappen. Doch sitzenbleiben geht auch nicht, also langsam weiter, kurze Pausen. Und irgendwann, so ab km 180, bewegen sich die Beine ganz von selbst, Körper, Wille und Verstand schließen Waffenstillstand und alle ziehen gemeinsam am gleichen Strick. Und die Leistung, die man dann bringen kann, ist schon beachtlich.Nicht schnell, aber laaaaaang…
506km, 4005HM, 24h15 reine Fahrzeit (30h40 gesamt mit Pausen)
Danke an
- Axel für den Ersatzakku und die moralische Unterstützung
- Andrea und Joachim für Kost und Logis in Luzern
- Thea und Uwe für das feudale Abendessen in Tutzing
- Gina, die nur noch resigniert mit dem Kopf schüttelt „mach dich nicht kaputt“ <3
;-)=